Dass Krisen – seien es wirtschaftliche oder militärische, Natur- oder Gesundheitskatastrophen – neben ihren jeweiligen unmittelbaren Herausforderungen in der Regel auch ein Tauziehen um Deutungen, Implikationen und politische Gestaltungen für den Moment sowie die Zeit danach mit sich bringen, zeigt sich bereits historisch. Ein Blick zu Naomi Klein und ihrem Buch Die Schock-Strategie von 2006, in welchem sie mehrere solcher Ereignisse der jüngeren Geschichte aufführt, ermöglicht ferner die Erkenntnis, dass in und nach Krisen dabei veränderte gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen werden können, die nicht unbedingt im Sinne oder zum Wohle der Mehrheit der Bevölkerung respektive des Gemeinwohls wirken, wenn durch sie der Abbau sozialer Errungenschaften, sozial-staatlicher Mechanismen, die Eindämmung und Rückführung von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten befördert werden.
Notstandsgesetzte, Zensur, Exklusion
Auch in der Corona-Krise sind solche Ansinnen und Entwicklungen bereits sicht- und absehbar. So schreitet z.B. in Ungarn der bereits seit Jahren betriebene Demokratieabbau mit dem neuen Notstandsgesetzt vom 30.März weiter voran. Mit den Sondervollmachten, welche der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán freie Hand bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie und der Bewältigung ihrer Folgen geben soll, kann nun ohne konkret-zeitliche Befristung auf dem Verordnungsweg regiert werden. Eine parlamentarische Kontrolle des Regierungshandelns ist somit aufgehoben, weitreichende Eingriffe in Bürger:innenrechte sind ungehindert möglich. Die drakonischen Strafen von bis zu fünf Jahren Gefängnis für die Verbreitung von etwaigen Fake-News beenden dabei auch sogleich die Pressefreiheit. Auch Wahlen und Volksabstimmungen sind ausgesetzt. Ähnliches gilt ebenso für China und andere Regionen Asiens, wo Aktivist:innen der Zivilgesellschaft entweder schikaniert und eingeschüchtert werden, weil sie Informationen über das Corona-Virus ausgetauscht hatten, während die Berichterstattung grundsätzlich zensiert wurde oder allgemein repressive Gesetze angewendet werden, um diejenigen zu verhaften, die vermeintliche Unwahrheiten über das Virus verbreiten.
In Deutschland kommen derweil – jenseits der eingeschränkten Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, sowie der gesteigerten Überwachung und Kontrolle – explizite Forderungen nach Rollback und Einschränkung von Rechten der Zivilgesellschaft auf.
So drängen einige Stimmen aus Politik und Unternehmerschaft zum Wohle der Industrie und einer Post-Corona-Prosperität auf eine Abkehr von der geplanten Green Deal-Umweltgesetzgebung – u.a. inklusive einer Aussetzung von Bürger:innenbeteiligungsrechten bei Fragen der Umwelteingriffe. Die Menschen sollen sich demnach also nicht mehr aktiv an einem Politikfeld beteiligen dürfen, welches den Zustand der Natur, des Trinkwassers und der Atemluft und somit sie selber aber unmittelbar und direkt betrifft. Das ist dann gleich auf zwei Wegen problematisch.
Zum einen sollen die massiven Schädigungen des Ökosystems Erde durch Treibhausgasemissionen, Naturverschmutzungen und Überentnahmen natürlicher Ressourcen noch länger fortgeführt werden, zum anderen wird eine dem gegenläufige Entwicklung der Nachhaltigkeit durch die Exklusion von Zivilgesellschaft auch grundsätzlicher verhindert. Dabei manifestiert sich doch anhand der aktuellen Krise und anderer zuvor die unbedingte Notwendigkeit einer erhöhten globalen Widerstandsfähigkeit mit reduzierten Abhängigkeiten und Krisenherden, worauf eine jene Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen abzielt.
Keine Nachhaltigkeit ohne Zivilgesellschaft
Für eine solche Entwicklung wiederum stellen die Einhaltung der Grund- und Menschenrechte eine Gelingensvoraussetzung sowie Zielsetzung dar. Sie benötigt und fokussiert die umfassende und gleichrangige Beteiligung und Teilhabe von Zivilgesellschaft an den politisch-gesellschaftlichen Gestaltungs- und Entscheidungs-prozessen. Ihr unbedingter Bedarf nach Ganzheitlichkeit, Kohärenz und kollektivem Handeln erfordert ein ausgewogenes Arran-gement von Staat, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft, in dem sich diese Sektoren gegenseitig unterstützen und sowohl sich selbst als auch das Gesamtsystem der Institutionen und der konstruktiven Beziehungen zwischen einander stabilisieren.
Bei einer Schrumpfung zivilgesellschaftlicher Handlungsräume (Shrinking Spaces) ist eine derartige Balance stark gefährdet. Insbesondere, wenn dies gleichzeitig zugunsten bzw. im Namen des privatwirtschaftlichen Sektors erfolgt. Denn eine solche privilegierte Stellung von Privatwirtschaft bedeutet nicht nur eine direkte Anteilsverschiebung in dem Sektor-Arrangement, sondern auch weiterführend eine Stimulation und Zementierung der Dominanz, da es häufig die Zivilgesellschaft in ihrer Wächter- und Themenanwaltsfunktion ist, die Unternehmensinteressen in Fällen von ökologischem oder sozialem Missbrauch in Frage stellt. Wenn Unternehmen, wie hier geschehen, durch ihren Einfluss auf die Regierungen aktiv daran beteiligt sind, den Raum der Zivilgesellschaft einzuschränken, potenziert sich das Ungleichgewicht. Zivilgesellschaft wird als potentielles Regulativ und Korrektiv etwaiger unternehmerischer Partikularinteressen subaltern und unwirksam, Privatwirtschaft im selben Zug überproportional politisch wirkmächtig bzw. bleibt es.
Da im weiteren Verlauf auch der Sektor Staat in seiner Position Nachteile dieser Entwicklung erfährt (sinkendes Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Institutionen und staatlichen Lösungsfähigkeiten und Instrumenta-lisierung und Kommodifizierung staatlicher Institutionen durch Privatwirtschaft), steht am Ende der Entwicklung eine Gesellschaft, in der politische Ziele einzig in ihrer Auswirkung auf die Unternehmen definiert werden. Sowas nennt sich Ökonokratie, ist nicht demokratisch, nicht nachhaltig und nicht am Wohl aller Menschen interessiert.
The Future we want?
Wenngleich die Bestrebungen und radikalen Maßnahmen der Regierungen und auch der Oppositionen, wie die Verhinderung öffentlich-zivilen Lebens, die verkürzten Wege der Gesetzgebung, die Sondervollmachten oder die Zugriffe auf persönliche Daten sicher in erster Linie aus Gründen der Pandemiebekämpfung geschehen, gilt es somit also dennoch wachsam zu bleiben, damit Zivilgesellschaft, Demokratie und folglich eine Nachhaltige Entwicklung keinen Schaden nehmen. Denn Beschränkung der Handlungsräume von Zivilgesellschaft, der Möglichkeit zur freien Rede, Vereinigung und Versammlung, der öffentlichen Debatte, der demokratischen Teilhabe und Zivilität ist ein globales und wiedererstarkendes Phänomen. Dem Civil Society Report 2020 zufolge leben über 6,2 Milliarden Menschen – 83 Prozent der Weltbevölkerung – in Ländern, die die Grundrechte wie Ungarn stark beschränken, die Zivilgesellschaft unterdrücken (u.a. Russland) oder ein komplett geschlossenes Gesellschaftssystem (u.a. China) geschaffen haben. Für etwa ein Drittel aller Menschen ist somit ein Ausleben ihrer Rechte vollständig und gewaltsam verunmöglicht – nicht nur in autoritären oder autoritativen Systemen der Entwicklungs- oder Schwellenländer, sondern auch in wachsendem Maße in den Demokratien westlicher Industrienationen.
Eine starke und kritische unkooptierte Zivilgesellschaft auf Basis bildungsinitialisierter informierter, demokratischer Beteiligung an gesellschaftlicher Veränderung muss daher unterstützt werden, damit Margaret Thatchers der Teile-und-herrsche-Logik folgender Anti-Kohäsions-Ausspruch „(…) there is no such thing as society (…).“ nicht um das Wort civil und womöglich um die Abfolge „(…) and thus no democracy and Sustainable Development.“ ergänzt werden muss.
Ergänzende Leseempfehlungen:
Dr. Dorothea Schostok: Covid-19 im Licht der Sustainable Development Goals
Photo by kristofarndt: „Made in Crisis“ (Attribution-NoDerivs License)